Frühkurs nach Konstanz

Eine Winterfahrt mit der "Hohentwiel"

Bis in den Ersten Weltkrieg hinein, standen auch während des Winterhalbjahres bis zu vier Schiffe der Friedrichshafener Flotte unter Dampf. Befahren wurden damals die beiden Querverbindungen nach Romanshorn und Rorschach und dreimal am Tag die Route zwischen Friedrichshafen und Konstanz. Ein weiterer Kurs führte am frühen Nachmittag nach Bregenz.  Auch der neueste württembergische Dampfer „Hohentwiel“ machte dabei keine Ausnahme….

Am Hafen herrscht noch stockfinstere Nacht. Nur der matte Widerschein der am Kai aufgestellten Laternen tanzt unruhig auf den glucksenden Wellen. Ein am späten Abend hereingebrochener Föhnsturm lässt langgezogene Wellenkämme gegen die Hafenmole branden. Der warme Südwind bringt außergewöhnlich milde Temperaturen. Schon seit Stunden taut es. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen eilen einige frühen Fahrgäste zur „Hohentwiel“, die an der mittleren Kaimauer, dem sogenannten „Damm“ für den Frühkurs nach Konstanz bereitliegt. Die Einstiegtreppe führt steil nach unten, denn der See hat seinen im Februar üblichen Tiefstand erreicht. Zwei Postbeamte bilden zusammen mit den Matrosen eine Kette, um die mit dem ersten Zug aus Ulm eingetroffenen Sendungen im geschützten Teil des Hauptdecks zu verstauen. Im hell erleuchteten Schiffsinnern herrscht eine angenehme Wärme. Noch ruhen die mächtigen Antriebskurbeln der blitzblank glänzenden Maschine, aber schon seit geraumer Zeit haben die Manometer an den Kessel den erforderlichen Dampfdruck von 11,5 Atmosphären erreicht. Maschinist Josef Bichlmeier überprüft noch einmal mit fachmännischem Blick den Füllstand der gläsernen Tropföler, wie die Glasbehälter zur Schmierung der Kurbellager bezeichnet werden. Die Decksbesatzung und die beiden Heizer sind sich schon seit zwei Stunden an Bord. Denn bevor die Kesselfeuer wieder hochgefahren wurden, musste erst neue Kohle gebunkert werden. Die beiden Bunker fassen je viereinhalb Tonnen, die vom Kohlenprahm mit Schubkarren an Bord gekarrt werden. Das Schiff war schon am gestrigen Tag im Einsatz, wodurch das zeitraubende Anheizen entfiel. Auf der hufeisenförmigen Sitzbank im geschützten Teil des Hauptdecks, blättert ein älterer Herr mit ergrautem Bart und vorgeschobener Brille in der aktuellen Ausgabe des „Seeblattes“. In der Bordküche im hinteren Teil des Steuerbord-Radkastens riecht es nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Hier befindet sich das Reich von Frau Elisabeth Hölzle, der Gattin des Schiffskassiers, die über die schwächer frequentierten Wintermonate, wenn keine „Fremden“ an Bord sind, ohne Küchenhilfe und Bedienungspersonal auskommt. Um diese Jahreszeit werden höchstens eine Suppe oder ein Paar Saitenwürstle verlangt. Gekocht werden muss nur für die Mannschaft, die rund 14 Stunden Dienst leistet. 

Als die Turmuhr der nahen St. Nikolauskirche 5.30 Uhr anschlägt, schrillt auch auf der „Hohentwiel“ die Klingel des Maschinentelegraphen. Mit vereinten Kräften wuchten zwei Matrosen, unterstützt vom Hafen-Bediensteten die schwere Einstiegtreppe aus dem Schiff. Drahtseile werden von den Pfählen und Pollern gelöst und auf dem hinteren Einstiegdeck, dem so genannten „Schwalbennest“, steht schon der dritte Matrose zum Sprengmanöver bereit. Kapitän Josef Kugel tritt an das Sprachrohr und gibt das Kommando „Langsam rückwärts“ zum Maschinisten. Mit langsam drehenden Schaufelrädern nimmt die „Hohentwiel“ Fahrt auf. Am letzten Pfahlbündel nimmt der Hafenmatrose das so genannte Sprengseil in Empfang. Mit dieser Stahltrosse, wird eine Hebelwirkung erzeugt, die das Schiff auf die gewünschte Position bringt. Als sich der Bug auf die Ausfahrt richtet, erteilt der Kapitän das Kommando „Langsam vorwärts!“ Vor dem langen Gebäude des Salzstadels liegt die „Helvetia“ mit ihrem eleganten Klipperbug, die eine halbe Stunde später in Richtung Romanshorn auslaufen wird. Aus der Zollhalle im Hafenbahnhof bewegen sich schemenhaft einige Passagiere in die Richtung des Schweizer Dampfers. Eine Etage höher wird im Bahnhofsrestaurant soeben das Licht eingeschaltet. Noch ein letzter Blick auf die an der hinteren Seite des „Damms“ vertäute „Königin Charlotte“, die zur Überfahrt nach Rorschach rüstet. Im Werfthafen liegen mehrere Dampfer im Winterschlaf, darunter auch das Schwesterschiff „Friedrichshafen“ und der alte Salondampfer „Christoph“

Kaum hat die „Hohentwiel“ die Hafeneinfahrt passiert, bekommt der Dampfer die anrollenden Wogen des Föhnsturms zu spüren. Das Schiff beginnt zu rollen und weiße Gischt prasselt über das Vorschiff. Nun gibt Kapitän Kugel das Kommando „Volle Kraft voraus!“ Schlingernd biegt die „Hohentwiel“ um das Glockenschlagwerk und geht auf südwestlichen Kurs. Das gegenüberliegende Schweizerufer hüllt sich noch in tiefe Dunkelheit. Nur vereinzelt blinkt matter Lichtschein herüber. Mit auflaufendem Wind geht es dem noch weit entfernten Immenstaad entgegen. An der Steuerbordseite sind trotz der vorherrschenden Dunkelheit die beiden Zwiebeltürme der Schlosskirche zu erkennen. Die königliche Sommerresidenz scheint um diese Jahreszeit ausgestorben, denn das württembergische Königspaar hält sich bis zum Frühjahr entweder in Stuttgart oder dem ehemaligen Kloster Bebenhausen bei Tübingen auf. Im Schiffsinnern vermittelt die stampfende Maschine ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Mit 44 Umdrehungen in der Minute schwingen die Antriebskurbeln im Gegenrhytmus auf- und nieder. Die Feuertüren sind weit aufgerissen und die beiden Heizer schaufeln Lage um Lage Kohlen in die Flammrohre. Im Hecksalon und seinen Nebenräumen herrscht gähnende Leere. Auf diesem Frühkurs sind selbst in der warmen Jahreszeit Reisende der I. Klasse eher selten. Der ältere Herr in der Vorschiffs-Rotunde sitzt immer noch in seine Zeitung vertieft. Auf der Titelseite verkündet eine Schlagzeile, dass in St. Petersburg der gemäßigte russische Ministerpräsident Wladimir N. Kokowzew durch den radikaleren Iwan L. Golmikow abgelöst wurde. Eine mehrköpfige Familie, die nach Konstanz will, verweilt sich am Geländer der Maschinenöffnung. Während sich die Mutter mit Stricken beschäftigt, blicken der Vater und die beiden Sprösslinge fasziniert auf das Kräftespiel der Antriebskurbeln und der kreisenden Exzenterscheiben. Soeben verschwindet Frau Hölzle mit zwei Porzellantassen dampfenden Kaffees über die Treppe zur Bugkajüte. Ein Matrose reinigt mit einem Putzlappen das messingglänzende Maschinengeländer. In der Kasse sitzt Erwin Hölzle vor seinem Schreibtisch und sortiert unter der ausziehbaren Lampe ein Bündel Frachtpapiere. Die Stationslichter von Immenstaad rücken immer näher. Neben zwei Passagieren werden noch mehrere große Kisten mit zerbrechlichem Inhalt übernommen. Als die „Hohentwiel“ das Kippenhorn umrundet, sind die Wellen des Föhnsturms kaum noch zu spüren. Das Schiff rollt jetzt sanft in der auslaufenden Dünung. Anders wird es der „Königin Charlotte“ ergehen, die auf der Fahrt nach Rorschach der vollen Gewalt dieses berüchtigten Gesellen ausgeliefert sein wird. Ein heller Streifen kündigt im Osten zaghaft und mystisch den neuen Tag an. Wie ein überdimensionaler Scherenschnitt schälen sich die Häupter und Zacken der Allgäuer und Vorarlberger Alpenkette aus der Morgendämmerung. Hoch über dem westlichen Teil des Sees steht noch der verblassende Mond. 

Im Fischer- und Winzerdorf Hagnau kommen mehrere Schüler und drei Passagiere an Bord. Einer der Matrosen deutet auf die rote Nase des wohlbeleibten Stegwartes. Bei der Bemerkung „Spätburgunder!“, brechen seine Kollegen in ein schallendes Gelächter aus. „Na, des kummt von dem verflixte Ostwind!“, wehrt sich der kleine Mann erbost während er die Taue von den Dalben löst. „Der Ostwind weht sicher aus der Winzergenossenschaft!“, feixt der am Sprachrohr stehende Kapitän. Der Anbinder reagiert mit einer drohenden Geste, als die „Hohentwiel“ wieder langsam Fahrt aufnimmt. Die Gemeinde  verdankt den 1874 angelegten Landesteg ebenso wie die 1881 gegründete Winzergenossenschaft der Initiative des aus Haslach im Kinzigtal stammenden alemannischen Dichterpfarrers Heinrich Hansjakob, der von 1869 bis 1883 die Pfarrgemeinde in Hagnau betreute. Eine Schar von jugendlichen und kernigen Seebuben und Mädels mit langen, schweren Zöpfen umringt jetzt das Geländer der Maschinenöffnung. Als einige von ihnen versuchen, sich auf den noblen Plüschpolstern des Hecksalons breit zu machen, werden sie sofort von einem aufmerksamen Matrosen entdeckt auf das Hauptdeck zurückgescheucht. 

Nach einer knappen Viertelstunde steuert die „Hohentwiel“ den Hafen von Meersburg an. Am Heck steht ein Matrose bereit, um mit Hilfe eines langen Bootshakens das auf dem Grund liegende Sprengseil aufzufischen und um den achteren Poller zu legen. Dadurch erhält das Schiff die gewünschte Richtung zum Landeplatz, was ein zeitraubendes Manöver erspart. Vor dem Gredhaus wartet schon der Dampfer „Zähringen“, mit dem Anschlusskurs nach Überlingen und Dingelsdorf. Dieser typische „Badener“ mit seiner lang gestreckten, filigranen Silhouette und den charakteristischen Schmalfenstern des Hecksalons, zählt schon seit Jahren zu den wirtschaftlichsten und zuverlässigsten Dampfern der Konstanzer Flotte. Drei Landwirte aus Hagnau, die wegen eines Grundbuch-Eintrags das „Amtsstädtle“ Überlingen aufsuchen wollen, müssen nun ebenfalls das Schiff wechseln. Von der Vorderseite des schlanken Kamins der „Zähringen“ zischt eine lange, weiße Dampfsträhne. An der Backbord-Rahe des Signalmastes der „Hohentwiel“, wird vor dem Auslaufen eine kleine, gelb-rote Flagge gehisst, die in Konstanz auf einen Personenzug-Anschluss in Richtung Singen-Villingen hinweist. Auf dem Hauptdeck und in der Bugkajüte herrscht jetzt eine drangvolle Enge. Neben einer großen Anzahl von Berufstätigen, strömen scharenweise Schüler aller Altersstufen an Bord, die nach Konstanz übersetzen wollen. Darunter befinden sich Gymnasiasten mit kecken Nickelbrillen, Real- und Berufsschüler in derben Winterschuhen und den typischen „Knickerbockern“. 

Als sich die „Hohentwiel“ mit dem Heck voraus aus dem kleinen Hafen schiebt, steigt hinter den Vorarlberger Berggipfeln als blutrote Scheibe die Morgensonne auf. Erst nur schemenhaft, aber zunehmend klarer, öffnet sich eine überwältigende, von der Alpsteingruppe bis zu den Glarner Alpen reichende Fernsicht. Auf Gegenkurs kommt die „Stadt Konstanz“ heran. Dieser wuchtig wirkende Dampfer mit seiner unverkennbaren Silhouette befährt den badischen Vormittagskurs nach Bregenz. Eine dunkle Rauchfahne wirbelt über seinem Kielwasserstreifen. Auch an Bord der „Hohentwiel“ haben sich die beiden Heizer mächtig ins Zeug gelegt, denn in Konstanz wartet eine erste, wohlverdiente Pause. Aus dem Schornstein der „Hohentwiel“ wälzen sich ebenfalls dichte Qualmwolken und das ganze Schiff bebt unter den Kolbenstößen der mit hoher Drehzahl arbeitenden Maschine. Als der Dampfer die Signalplattform am Eichhorn umrundet und in den „Trichter“ einbiegt, breitet sich in den Strahlen der Morgensonne die vertraute Silhouette von Konstanz, der alten Bischofstadt mit ihren aufragenden Türmen. Erst kurz vor der Hafeneinfahrt geht der Kapitän mit der Fahrt herunter. Im kristallklaren Wasser des ausströmenden Seerheins kann auf dem Grund fast jedes Steinchen wahrgenommen werden. Unter langsamem Schaufelschlag steuert die „Hohentwiel“ an den Landungsplatz vor dem wuchtigen Konzilgebäude, wo der Dampfer schon vom Dienstmann des nahe gelegenen Bahnhofs und zwei uniformierten Postbeamten empfangen wird. Das illustre Reisepublikum strömt zügig von Bord und verliert sich im geschäftigen Treiben auf der Marktstätte. Für den Dampfer aus Friedrichshafen wartet nach diesem ersten Zwischenaufenthalt in der „Konzilstadt“ ebenfalls noch ein langer und anstrengender Arbeitstag.

(Karl F. Fritz)  

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